Physiotherapie-Protokoll

Spontanerworbene Plattfussdeformität (posteriore Tibialis-Sehnen-Dysfunktion)
Hierbei handelt es sich um eine Übersicht eines nicht-operativen Protokolls zur Behandlung einer spontan erworbenen Plattfussdeformation beim Erwachsenen (Stadium 2). Einzelne Punkte dieses Berichts sind in einem Forschungsbericht niedergeschrieben, welcher im Foot and Ankle International, Januar 2006 publiziert wurde (Alvarez RG, Marini A, Schmitt C, Saltzman CL. Posterior Tibial Tendon Dysfunction Treated by a Structured Nonoperative Management Protocol: An Orthosis and Exercise Program. FAI Vol. 27(1): 1-8, Jan 2006).

Worum handelt es sich bei der erworbenen Plattfussdeformität?
Patienten haben in der Regel Schmerzen am inneren (medialen) Sprunggelenk, können aber auch Schmerzen an der Aussenseite verspüren. Ein knöchernes Impingement am Fersenbein/Sprungbein kann die Ursache sein. Meist wird eine Plattfussdeformität erst dann symptomatisch, wenn sich die medialen Strukturen des Fusses (inkl. der hinteren Tibialis-Sehne) überdehnen und dadurch an Funktion einbüssen. Die Sehne wird stark gedehnt, reisst aber nicht. Dies äussert sich in der Unfähigkeit, das Bein mit der Ferse anzuheben. Zur Durchführung des Tests muss der Patient auf einem Bein stehen und die Ferse anheben, was die Intaktheit der Tibialis-Sehne voraussetzt.

Einzigartigkeit des Behandlungsprotokolls
Das herausragende bei diesem Protokoll ist, dass das erste Mal eine Studie die Wirksamkeit der Funktionswiedergewinnung der hinteren Tibialis-Sehne belegt. Vor dieser Studie konnten Patienten nur Versuchen, eine Symptomkontrolle durch das Tragen von Schienen oder chirurgischer Rekonstruktion zu erlangen. 88% der Studienteilnehmer waren mit dem Outcome zufrieden und weitere 83% gaben an, mehrere einbeinige Fersen-Anhebungen in durchschnittlich 4 Monaten durchgeführt zu haben. Diese Erkrankung wird oft erst nach vielen Jahren einer Plattfussdeformität symptomatisch, wenn sich die medialen Strukturen des Fusses (einschließlich der hinteren Tibialis-Sehne) dehnen und an Funktion verlieren. Eine Deformität im Stadium 2 tritt auf, wenn die hintere Tibialis-Sehne über ihre Arbeitslänge hinaus gedehnt wird, aber nicht reißt. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Patient nicht in der Lage ist, ein Bein mit der Ferse anzuheben.

Schlüsselelemente des Behandlungsprotokolls
Das Behandlungsprotokoll besteht aus zwei Komponenten:

  1. Einem Stützverband zum Schutz und zur Unterstützung der verletzten medialen Strukturen.
  2. Einem Kräftigungsprogramm mit hoher Wiederholungszahl und geringem Widerstand zur allmähligen Stärkung der hinteren Tibialis-Sehne.

Einschränkungen des Protokolls
Wichtig ist anzumerken, dass das Protokoll nicht die Plattfussdeformität oder den bestehenden Schaden an der Sehne rückgängig macht. Die Symptomatik kann sich jedoch erheblich verbessen. Um keinen Rückfall zu erleiden, müssen Patienten effektiv ihr Leben lang eine vereinfachte/individualisierte Form des Programms durchführen, welches 3 bis 4-mal pro Woche absolviert werden muss. So kann das Risiko für das Wiederauftreten der Symptome verringert werden. Weiter kann es für Patienten, die anstrengende Aktivitäten (z.B. tägliches Laufen) ausführen, allgemein erschwert sein.

Welche Patienten kommen nicht für dieses Protokoll in Frage?
Das Protokoll darf nicht angewendet werden, wenn die hintere Tibialis-Sehne vollständig gerissen ist. 1 von 10 Patienten mit Plattfuss Stadium 2 fällt in diese Kategorie. Um festzustellen, ob die Sehne intakt ist, wird dies palpatorisch durch Tasten ermittelt. Besteht Unklarheit, kann ein MRI diagnostisch unterstützen. Routine-MRIs sind jedoch zur Diagnose nicht erforderlich. Das MRI zeigt, ob ein Schaden vorhanden ist. Wichtig ist jedoch zu ermitteln, ob die Sehne effektiv gerissen ist oder nicht.

Die Schienungs-Komponente des Behandlungsprotokolls
Das Schienen (Bracing) stützt die ausgedehnten, überlasteten Strukturen, einschliesslich der hinteren Tibiasehne. Patienten mit einer Deformität Stadium 2, die kein Fersenanheben durchführen können, können von einer massgefertigten Orthese (massgefertigte AFO = Arizona Fuss- und Sprunggelenks-Orthese) profitieren. Viele Patienten empfinden diese aber als zu sperrig und eng. Sprunggelenksbandagen haben im Vergleich für Beschwerden wie hintere Tibia-Sehnenentzündung ebenfalls gute Ergebnisse, sind eine gute Alternative und sind rezeptfrei erhältlich. Diese sind jedoch nicht so stabil wie eine AFO. Einige Monate nach Beginn des Tragens einer Stütze hat die hintere Tibiasehne gewisse Funktionen wiedererlangt und eine rezeptfreie Orthese oder eine mediale Fussgewölbestütze kann angelegt werden. Dabei sollten diese Hilfsmittel beim Gehen/Laufen immer getragen werden.

Die Physiotherapie-Komponente des Behandlungsprotokolls
Ein Physiotherapie-Protokoll ist ein Protokoll mit vielen Wiederholungen und geringem Widerstand. Bei normalem Gehen/Stehen wirkt das 2- bis 4-fache des Körpergewichts auf die hintere Tibialis-Sehne. Die Belastung ist so zu hoch, um eine beschädigte Sehne funktionieren zu lassen. Wird mit geringerer Krafteinwirkung begonnen, kann die Sehne heilen und rehabilitieren. Hierbei unterstützt der Physiotherapeut durch Schulung des Patienten sowie Beurteilung und Überwachung der einzelnen Übungseinheiten. Um einen Erfolg zu erzielen, müssen Patienten während mindestens vier Monaten das Programm fast täglich absolvieren. Hierbei wird der Physiotherapeut den Patienten bis zu neun Mal sehen, in der Regel wöchentlich in den ersten vier Wochen und anschliessend alle zwei Wochen. Nach vier bis sechs Wochen sollte der Arzt besucht werden, um den Fortschritt zu beurteilen. Nach Abschluss des Protokolls, sollte der Patient einen Trainingsplan für ein Training drei Mal wöchentlich auf unbestimmte Zeit erhalten.

Phase 1

  • Übungen von Fusssohle zu Fusssohle: Hier sitzt der Patient mit baumelnden Füssen und dreht diese, bis er die Fusssohlen zusammenbringen kann. Dabei spannt er die Schienbeinsehne an, wobei die Schwerkraft den Widerstand bildet. Dies wird mit 4 Sätzen à 10 Wiederholungen begonnen und auf bis zu 12 Sätzen à 24 Wiederholungen gesteigert.
  • Alternativ – Ball mit Fersen aufnehmen: Hier sitzt der Patient mit baumelnden Füssen und dreht diese, um einen Ball, der zwischen den Füssen liegt, aufnehmen zu können. Dabei dreht der die Füsse um und klemmt mit den Fussgewölben den Ball ein. Dies tut er mit 4 Sätzen à 10 Wiederholungen und steigert dies, bis er 12 Sätze à 25 Wiederholungen durchführen kann.

Phase 2
In dieser Phase werden die Übungen aus Phase 1 mit 12 Sätzen à 25 Wiederholungen problemlos durchgeführt. In der Regel geht man in Phase 2 nach ca. 10-14 Tagen seit Beginn des Programms über.

  • Durchführungen von Übungen aus Phase 1 als Aufwärmübung.
  • Übungen mit Widerstand: Das Übungsprogramm wird mit einem roten Übungsband begonnen. Es werden Inversion (Bewegung nach innen), Eversion (Bewegung nach aussen) und Dorsalflexion (Fussbewegung nach oben) durchgeführt. Die Inversionsübungen sind die wichtigsten. In Ausgangsstellung gelangt man durch eine kontrollierte Bewegung ohne Drehung des Beines. Es wird mit 4 Sätzen à 10 Wiederholungen begonnen, wobei die Anzahl Sätze auf 10 Sätze à 20 Wiederholungen erhöht wird.
  • Zehen-Spitzen-Stand: Hier hält sich der Patient an einer Wand oder einem Stuhl fest, um das Gleichgewicht zu halten. Nun sollen die Fersen kontrolliert vom Boden abgehoben werden, wobei das nicht betroffene Bein 75 bis 85% des Körpergewichts tragen soll. Es wird mit 4 Sätzen à 10 Wiederholungen begonnen, wobei die Anzahl Sätze auf 10 Sätze à 20 Wiederholungen erhöht wird.

Phase 2 dauert in der Regel 4 bis 8 Wochen. Es sollte eine schrittweise Steigerung erfolgen. Flammen die Symptome wieder auf, sollte die Routine für ein paar Tage unterbrochen werden, bis sich die Symptomatik wieder beruhigt hat.

Phase 3
Wenn die Phase 2 mit jeweils 200 Wiederholungen der Übungen gegen den Widerstand problemlos ausgeführt werden können, geht man zu Phase 3 über.

  • Fortsetzung der Routine aus Phase 1 als Aufwärmübung.
  • Widerstandsübungen: Die Übungen aus Phase 2 sollten mit einem noch steiferen Übungsband durchgeführt werden. Hierbei sind Inversion, Eversion und Dorsalflexion durchzuführen. Die Inversionsübungen sind wieder die wichtigsten. Die Bewegung werden mit kontrollierter Rückkehr in den Ausgangszustand ohne Drehung des Beines beendet. Auch sollte die Anzahl Sätze und Wiederholungen langsam gesteigert werden, bis man 10 Sätze à 20 Wiederholungen erreicht.
  • Zehen-Spitzen-Stand: Der Patient steht, hält sich an einer Wand oder einem Stuhl fest, um das Gleichgewicht zu halten. Die Fersen sollten nun kontrolliert vom Boden abgehoben werden. Das nicht betroffene Bein trägt nun nur 50% des Körpergewichts. Es sollten 4 Sätze à 5 Wiederholungen durchgeführt werden. Gesteigert wird mit der Zeit auf bis zu 10 Sätze à 20 Wiederholungen.
  • Einbeiniger Zehen-Spitzen-Stand: Der Patient versucht, den einbeinigen Zehen-Spitzen-Stand: durchzuführen. Dabei sollte er dies kontrolliert tun und 4 Sätze à 5 Wiederholungen absolvieren. Gesteigert wird mit der Zeit auf bis zu 10 Sätze à 20 Wiederholungen.
  • Zehenlaufen: Nun versucht der Patient 3 bis 5 Meter auf den Zehenspitzen zu gehen, wobei das Knie durchgestreckt bleibt. Er steigert dies allmählich, bis er 5 mal 30 bis 50 Meter laufen kann.

Phase 3 dauert in der Regel 4 bis 8 Wochen.

Stabilisierungsprotokoll
Nach Abschluss des Behandlungsprotokolls sollte der Patient eine Routine aus beidseitigem Zehen-Spitzen-Stand, Übungen gegen Widerstand und Zehenspitzenlaufen entwickeln, die 10 bis 15 Minuten dauert. Diese Routine sollte mindestens dreimal pro Woche durchgeführt werden.